Nachdenken über Probleme linker Sichtweisen
16. Dez. 2024 von Rainer Dörrenbecher
Wieder einmal sind wir gefordert, uns einen eigenen Standpunkt zu den „Ereignissen“ in Syrien zu machen. Für unsere überparteilichen Medien ist der langersehnte Sturz des Assad-Regimes endlich erfolgt.
Für die bürgerlichen Einheitsmedien ist zumindest folgendes klar: das Assad-Regime ist eine bluttriefende Diktatur, die das eigene Volk grausam unterdrückte und in Foltergefängnissen quälte; auch seien noch gar nicht alle unterirdischen Foltergefängnisse gefunden. Da jedoch die siegreichen Rebellen gestern noch dschihadistische Terroristen waren, bleibt noch ein ungutes Gefühl.
Es sind in erster Linie die Sanktionen des Westens, die das Elend der Bevölkerung, die soziale und wirtschaftliche Krise, verursacht haben. Das räumen inzwischen sogar die Leitmedien ein. Ziel der Sanktionen war es, das Not der Bevölkerung zu verstärken, damit deren Unmut zu verstärken und das herrschende System zu schwächen. Das Ziel der Sanktionen wurde erreicht.
Diese Sichtweise findet sich bis ins linksliberale, linke Spektrum. Das nd veröffentlichte ein Interview mit einem in London lebenden Syrienexperten, der u.a. als Programmleiter für Syrien und Irak im Nahost-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung tätig ist. „Nach der syrischen Revolution 2011 wurden Hunderttausende durch Assad und seine Unterstützer Russland und Iran getötet, über 100 000 Menschen verschwanden in Foltergefängnissen – ihre Familien wussten oft jahrelang nicht, ob sie überhaupt noch lebten. Auch wenn die Zukunft ungewiss ist, es ist jetzt das erste Mal seit vielen Jahren, dass Syrer*innen wieder von einem anderen, einem freien Syrien träumen können.“ Die Position von Haid Haid zur dschihadistischen HTS im weiteren Text ist zumindest fragwürdig. Warum stürzte Assad so schnell? – Haid Haid: »Syrer können wieder von einem freien Land träumen« | nd-aktuell.de
Linke Medien versuchen der üblichen üblen Propaganda andere Informationen entgegenzusetzen. Sie stellen dar, dass und wie seit mehr als 10 Jahren der „Westen“, d.h. die NATO-Staaten und Israel, versucht Syrien unter seine Kontrolle zu bringen. Da geht es um viel Öl. Die CO2-freie Weltwirtschaft ist noch in weiter Ferne. Da hat Israel seine zionistisch-imperialistischen Interessen, seinen religiös begründeten Anspruch auf Teile Syriens, unterstützend geduldet von den USA und anderen. Da gibt es die geo- und militärpolitische Strategie des West-Imperialismus Syrien aus dem antiamerikanischen Netzwerk herauszubrechen. Und es gibt die Türkei mit ihren eigenen Interessen. Die syrisch-kurdische Selbstverwaltungsregion (Rojava) verfügt ebenfalls über Ölvorkommen. Auch wird darauf hingewiesen, dass das System korrupt und parasitär war. Der ausgebliebene Widerstand der Armee ist somit verständlich, ebenso sind die Hoffnungen in der Bevölkerung verständlich.
Für die EU und die Regierungen der führenden Länder ist jetzt Alarmstimmung: wie können wir ein weiteres Afghanistan verhindern und unseren Anteil am syrischen Öl sichern – neben den USA und der Türkei – und Israel? Wie das weitergeht, werden wir erleben.
Einige Hintergründe des Zusammenbruchs des Assad-Regimes
Indiskutabel ist die Position der DKP-Führung, die das Assad-Regime zur antiimperialistischen Kraft erklärt. „Der Sieg der Dschihadisten in Syrien ist ein zeitweiliger Rückschlag für die antiimperialistischen Kräfte und die Kräfte, die auf eine multipolare Weltordnung hinarbeiten. Es ist vor allem ein Rückschlag für die Menschen in Syrien, für die eine friedliche Entwicklung in noch weitere Ferne gerückt ist, weil ihr Land wieder vollständig zum Spielball des Imperialismus geworden ist.“ https://www.unsere-zeit.de/friedliche-entwicklung-in-weite-ferne-gerueckt-4798677/ So einfach ist die Welt. Wer vom (West-) Imperialismus unter Druck gesetzt wird, ist antiimperialistisch. Das religiös-faschistoide Regime im Iran gehört dann wohl auch dazu. Die Auffassungen und die Situation der Fortschritts-Kräfte in den Ländern werden einfach ignoriert. (siehe unten KP Syrien)
Für linke Medien stecken dahinter die USA, die EU/Großbritannien und die Türkei. Doch die Frage, wieso brach das Assad-Regime so schnell zusammen? Diese Frage steht wie der berühmte unsichtbare Elefant in diesen Beiträgen.
https://www.german-foreign-policy.com/ schrieb am 10. Dez.
„Die Sanktionen Deutschlands und der EU haben zum Sturz von Bashar al Assad und zum Siegeszug der Jihadistenmiliz Hayat Tahrir al Sham (HTS) beigetragen, die ihren Weg zur Macht in Damaskus damit auch Europa verdankt.
DAMASKUS/BERLIN (Eigener Bericht) – Mit ihren Sanktionen gegen Syrien haben Deutschland und die EU zum Sturz des syrischen Präsidenten Bashar al Assad sowie zum Siegeszug der Jihadistenmiliz Hayat Tahrir al Sham (HTS) beigetragen. Dass die Offensive der HTS innerhalb von nur elf Tagen zur Einnahme von Damaskus führen konnte, hatte mehrere Ursachen, darunter zum Beispiel weithin grassierende Korruption in den syrischen Streitkräften und deren Infiltration durch Aktivisten der Opposition; beides hatte zersetzende Wirkung, als die HTS ihren Feldzug startete. Genährt wurden die Korruption sowie eine allgemeine Unzufriedenheit in der Bevölkerung allerdings auch durch die drastischen Folgen der westlichen Sanktionen, die zu einer massiven Zunahme von Armut und Hunger führten; bereits 2019 warnte der European Council on Foreign Relations (ECFR), die Sanktionen liefen letztlich auf eine „Politik der verbrannten Erde“ hinaus, die „unterschiedslos und willkürlich gewöhnliche Syrer“ strafe. Profiteur der Unzufriedenheit war die HTS, die im Gouvernement Idlib ein repressives, auf einer harten Auslegung der Scharia beruhendes Regime errichtet hat und nun die Macht in Damaskus übernimmt.“
https://publikumskonferenz.de/blog/syrien-in-truemmern-und-was-die-medien-verschweigen/ veröffentlichte einen Bericht von Karin Leukefeld, einer uns nicht unbekannten Korrespondentin, die im „Nahen Osten“ lebt.
„Wie während des Krieges seit 2011 erklären auch jetzt wieder westliche und westlich orientierte „Qualitäts-Medien“ der Welt, was in Syrien geschieht. Jahre lang haben sie geschwiegen über die Folgen ausländischer Interventionen, über geheime Bewaffnungs- und Ausbildungsprogramme für die bewaffneten Aufständischen ausländischer Geheimdienste. Sie schwiegen über die völkerrechtswidrige Besatzung syrischer Rohstoffe und von syrischem Territorium durch ausländische Truppen. Sie schwiegen über die Auswirkungen weitreichender einseitiger wirtschaftlicher Strafmaßnahmen (Sanktionen) der Europäischen Union, mit denen Syrien und seine Regierung „gebeugt“ werden sollte. Sie schwiegen über die Auswirkungen des einseitig von den USA verhängten „Caesar Gesetzes“, mit dem jede Investition, jeder Handel mit Syrien von den USA kriminalisiert und mit finanziellen Sanktionen bestraft werden konnte. Die Auswirkungen dieser Maßnahmen, deren Aufhebung von der Mehrheit der Staaten in der UN-Vollversammlung wieder und wieder gefordert und immer wieder von den reichen, westlichen Staaten – auch Deutschland – abgelehnt wurden, lasteten sie dem syrischen Präsidenten Bashar al Assad an.
Nun also erklären besagte Medien der Öffentlichkeit, dass Dschihadistengruppen Damaskus erobert und das „Assad-Regime“ gestürzt hätten. 14 Jahre lang habe Baschar al-Assad „sein halbes Land zerstören“ lassen, „um an der Macht zu bleiben“ heißt es in einer deutschen Tageszeitung. „Am Ende brauchten die Rebellen dann zehn Tage, um sein ausgehöhltes Regime zu stürzen“, so der Vorspann des Artikels, der die Überschrift trägt: „Die Nacht, als der Diktator floh“.
Der syrische Präsident tritt zurück
Tatsächlich wurde Damaskus nicht „erobert“, sondern die Bewohner der syrischen Hauptstadt haben die Kampfverbände hereingelassen. Armee und Polizei waren angehalten, keinen Widerstand zu leisten und sich zurückzuziehen, die Bevölkerung der Stadt war schon seit dem Vortag zu Hause geblieben, um abzuwarten. Der syrische Präsident Al Assad hatte nach direkten und indirekten Gesprächen mit arabischen Golfstaaten (Vereinigte Arabische Emirate, Saudi-Arabien), mit der Türkei, Jordanien, Irak, mit Iran und Russland seine Chancen abgewogen. Um erneutes Blutvergießen zu vermeiden, ordnete er den Rückzug der Streitkräfte, von Armee und Polizei an und handelte damit sehr verantwortungsbewusst. Für sich und seine Familienangehörige wählte Assad den Weg ins Exil. Er floh nicht bei Nacht und Nebel, sondern wurde – vermutlich von der russischen Militärbasis Hmeimien (Latakia) – nach Moskau geflogen. Dort erhielt die Familie Al Assad humanitäres Asyl.
Vermutlich hatte Assad keine Alternative. Von allen Seiten stand er unter Druck, die wirtschaftlichen Probleme, die vor allem durch den Krieg und die EU/US-Sanktionen verursacht waren, konnte er nicht lösen. Am Abend des 8. Dezember stellte sich die Lage für außenstehende Beobachter so dar, dass der Präsident geht, die Regierung bleibt, um die Zerstörung der Ministerien und Institutionen zu verhindern und den politischen Übergang mit den Dschihadisten zu klären. Ministerpräsident Mohammad Ghazi al-Jalali ordnete an, dass die Ministerien besetzt bleiben sollten und forderte demokratische Wahlen. Dschihadistenführer Abu Mohammad al-Jolani, der kurz vorher wieder seinen ursprünglichen Namen Ahmed Hussein al-Shar’a angenommen hatte, erklärte Al-Jalili solle vorübergehend die Regierungsgeschäfte führen, bis eine Regelung für eine neue Regierung gefunden worden sei. Verschiedene Medien sprachen von einer vorübergehenden «Regierung der nationalen Einheit».“
Erste Schritte des HTS gehen nicht in diese Richtung; die neu ernannte Regierung wird von dem Regierungschef der dschihadistischen Provinz Idlib angeführt, alle Minister gehören zur HTS. Entsprechend wachsen in Syrien bei den nationalen und religiösen Minderheiten die Sorgen.
In einem neueren Artikel (16. Dez.) auf https://www.nachdenkseiten.de/?p=126339 geht K. Leukefeld auch auf die Situation in Syrien 2011 ein. Sie beschreibt ein Land mit prosperierender Wirtschaft, versehen mit dem Wohlwollen der Weltbank und der EU, mit beachtlichen Investitionen der Ölmultis u.a. Multis. Nichts finde ich in dem Beitrag zur Lage der arbeitenden Klassen. Dann heißt es: „In Syrien begannen Demonstrationen, überall wurde diskutiert. Erste Menschen wurden bei den Protesten getötet, Angriffe auf Polizei und Armee vor allem in den Grenzgebieten zur Türkei und zu Jordanien nahmen zu. Wissenschaftler, Offiziere, Politiker, Journalisten wurden erschossen oder entführt, es herrschte Angst. Oppositionelle aus verschiedenen Parteien stellten auf einer Konferenz im Semir-Amis-Hotel im Sommer 2011 ihre Forderungen vor: Keine Gewalt, Freilassung der Gefangenen, nationaler Dialog.“
Der Elefant ist immer noch unsichtbar.
Antiamerikanisch /„antiimperialistische“ Scheuklappen ablegen
Auffällig ist für mich, 2011, „arabischer Frühling“, Demonstrationen in Syrien – all das findet sich nicht bei der Benennung von Ursachen. Keine Einmischung von außen kann zum Sturz eines Regimes führen, wenn dazu nicht im Innern die Bedingungen gegeben sind. Das zu ignorieren, ist wieder nur erklärbar mit diesem merkwürdigen linken Antiamerikanismus, wonach alles Übel von den USA ausgeht. Das ist eigentlich nicht falsch (salopp gesagt), aber, ob sich das Übel durchsetzt, dafür müssen – siehe oben – vor Ort entsprechende Bedingungen vorhanden sein.
Ende Mai 2011 hat kommunisten.de eine Erklärung der Syrischen Kommunistischen Partei (Einheit) veröffentlicht. Damals war es nach den zunächst friedlichen Protesten zu Übergriffen der Sicherheitskräfte und andererseits bewaffneten Angriffen von „Protestierenden“ gekommen. Die Erklärung beginnt mit der Benennung von Ursachen der berechtigten Massenproteste, demokratischer Defizite und sozialer Probleme:
„Die schlimmen Ereignisse in Syrien halten seit nunmehr zwei Monaten an. Sie brachen aus, als die Bevölkerung im Verwaltungsgebiet Daraa eine Protestbewegung mit lokalen Forderungen des Volkes in Gang setzte. Diese Bewegung warf Licht auf einige ernste Mängel im politischen Leben Syriens. Beispielhaft genannt seien: der anhaltende Ausnahmezustand, politische Aktivitäten der Regierenden, etc. Ferner machten diese Proteste auf die öffentliche Kritik aufmerksam, die ebenso mit den verschlechterten Lebensbedingungen wie mit den sozialen Zuständen zu tun hat, die Folgen des Wirtschaftssystems in Syrien sind. Dieses wandelt sich in eine freie Marktwirtschaft, mit sinkender Unterstützung und Hilfe für die Habenichtse im Lande, mit Abbau von Zuschüssen für Grundbedürfnisse und die Bedürfnisse der landwirtschaftlichen Produktion, der Beseitigung jeglicher Staatskontrolle des Außenhandels – eine Maßnahme, die nicht durch eine Weiterentwicklung der Industrie Syriens begleitet wurde. Zudem ist der Anteil der Arbeitslosigkeit besonders unter jungen Menschen gestiegen.
Das alles macht den Erlass von drei Gesetzen erforderlich: die Aufhebung des Ausnahmezustandes, die Auflösung des Gerichtshofes für Staatssicherheit und die gesetzliche Zulassung von friedlichen Demonstrationen.“
Im Weiteren wird auf die Rolle Syriens in der Region und im Widerstand gegen US-amerikanische-israelische Pläne in der Region hingewiesen. Und dass die Partei in diesem Sinn die Regierung unterstützt.
Die Partei machte mehrere Vorschläge zu einer demokratisch abgesicherten Lösung der Krise. „Die Syrische Kommunistische Partei (geeinigt) gab eine Erklärung heraus, die breite Unterstützung bei nationalen Kräften fand, in der die Abhaltung einer Nationalen Konferenz gefordert wurde, und dass an dieser Beratung alle politischen Parteien, einschließlich der nationalen inländischen Opposition Syriens, die Vertreter der Gewerkschaften Syriens, die intellektuellen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten und die Religionsvertreter teilnehmen sollten.“
Die Entwicklung nahm einen anderen Verlauf. Die Verantwortung dafür lag nicht nur bei den USA und Verbündeten.
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